kirill ivlev | die schönheit hat keine ahnung

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Fotos: Katharina Monka | Kirill Ivlev | Konrad Abeln


Dr. Stephan Trescher:
Von Sinnen und Zecken in der Kunst

Kirill Ivlevs „Die Schönheit hat keine Ahnung“ in der dst.Galerie, Münster

[…]

Der kleine, langgestreckte Raum der dst-Galerie liegt verwandelt da. Am auffälligsten: Der Hochsitz in seiner Mitte, vom Künstler unter tätiger Mithilfe des Galeristen Konrad Abeln selbst gezimmert. Zunächst bis zur Deckenhöhe reichend und dann in einer leider nicht öffentlichen Aktion gezielter Destruktion zurechtgestutzt und heruntergebrochen, bis die Schießscharte annähernd auf Augenhöhe war. Den Boden der Galerie bedecken immer noch hölzerne Trümmer, Splitter und Späne.

Von außen betrachtet, fungiert die schmale Schießscharte als unverglastes Fenster und gewährt Einblick in eine Art White Cube, jedenfalls einen bei dieser rohen Hülle unerwartet glatten Raum mit vier weißen Wänden. Den kann man von der Rückseite über ein Leiterchen auch betreten. Dann erst sieht man die Fülle von Miniaturskulpturen auf ihren Borden und Sockeln thronen, flankiert von einigen kleinen Bildern. Deren Glasrahmen sind manchmal beschädigt, zersplittert und zerdrückt, in jedem Fall aber mit mehreren Schichten leicht farbigen Wachses überzogen. Man ahnt, daß sich dahinter einmal ein anderes, ein „richtiges“ Bild befunden hat; zu erkennen ist es nicht mehr. An seine Stelle ist eine manchmal farbig schillernde Schichtung durchscheinenden Materials getreten, das Schlieren bildend und Blasen werfend ausgehärtet ist. Oft formt sich das Wachs auch zu dicken Ausstülpungen oder Beulen - als sei darunter Lebendiges am Werke.

Die Skulpturen ringsum sind allesamt hybride Mischwesen aus Mensch und Tier, monströse Chimären, meist mit Puppenköpfen oder -gliedern, die auf Reptilienleibern sitzen oder ebenfalls bis zur Unkenntlichkeit mit Wachs übergossen sind. Ein leichtes Grauen schleicht sich bei deren Betrachtung ein – wenn auch manches so grotesk ist, wie der auf seinen stummeligen Babypuppen-ärmchen durch ein Astloch nach draußen starrende Dinosaurier mit Grinsgesicht, daß es schon wieder zum Lachen reizt.

Betrachtet man die sparsam und gezielt platzierten Gemälde an den Wänden der Galerie, wächst das Unbehagen: Mal auf Latten genagelt, mal in klassischem Goldrahmen präsentiert, entpuppen sie sich als Fundstücke, die dem Dachboden oder dem Flohmarkt zu entstammen scheinen und klassische Genres wie die Landschaftsmalerei oder das Heiligenbild repräsentieren. Das ist manchmal mehr, manchmal weniger deutlich zu erkennen, denn auch hier sind die Oberflächen von Wachs und Ton überzogen. Manchmal nahezu vollständig, manchmal auch nur in einzelnen Partien. Dann verdichten sich die Klumpungen, Wülste und Blasen zu eindeutig organischen Formen, die groß und plump aus der amorphen zähklebrigen Masse wachsen: es sind ins riesenhafte gewachsene Zecken. Mit geblähtem, wulstigen Körper und winzigen Beinchen an der Kopfseite.

Eine solche Riesenzecke liegt als Skulptur auch auf dem Sockel im Schaufenster der Galerie, in einer Art merkwürdiger Geburtswehen begriffen, mit Eiern wie perlmutternen Trabanten um sich her. Auch hinter einem Balken an der Decke lauert so ein Viech, um sich nach Zeckenart auf sein vorbeischlenderndes Opfer fallen zu lassen. Noch größer ist die zum Monument erstarrte schwarze Zecke am anderen Ende des Raumes, auf einer großen schwarzen Tafel wie auf einem Katafalk ruhend, ein biomorpher Felsbrocken in schwarzglänzender Lackpfütze. Durch das milchglasige Sprossenfenster darüber schließlich dräut von draußen das Photo einer mannshohen Zecke wie eine Ausgeburt der Hölle.

Gekrönt wurde das Schreckenskabinett von Kirill Ivlev am Eröffnungsabend allerdings von einer menschlichen Gestalt in einem eng anliegenden, gelblich weißen Gummianzug (dem Künstler selbst), den Kopf verhüllt von einer Gummiblase, die durch das mühsame Luftholen des Menschen darunter in der Atemfrequenz pulsierte – und sich bei näherem Hinsehen ebenfalls als eine Zeckenform entpuppte. Schwer atmend, aber ansonsten gänzlich ruhig, saß dieses Wesen auf einem Stuhl und hielt in seinen Armen eine kleine Zecke babygleich an eine seiner mit Ventilen bestückten aufblasbaren Brüste, um es zu stillen. An der Wand über dieser mütterlichen Menschenzecke ein Mehrschichtenbild mit Landschaftsanteilen und den zerschnittenen Überresten eines Porträts, das gut und gerne die neuzeitliche Ikone eines staatlichen Würdenträgers gewesen sein könnte – solchermaßen das Zeckenhaft-Parasitäre assoziativ auch auf die gesellschaftliche Ebene hebend.

Man mag das unappetitlich finden; die Vokabeln „niedlich“, „harmlos“ und „hübsch“ kommen einem jedenfalls nicht über die Lippen. Denn, wie es so schön schon bei Brecht heißt, „Das ist Kunst und nicht nett“. Kirill Ivlev geht es natürlich nicht einfach um die Ästhetik des Schocks oder ein Wechselbad der Gefühle zwischen schön und schaurig – das Parasitäre der Zecke ist ihm Sinnbild für jedwede künstlerische Auseinandersetzung mit Vergangenheit und Tradition oder gar für die künstlerische Existenz schlechthin: die alten Formen werden benutzt und ausgesogen wie ein Wirtstier, übrig bleiben leere, tote Hüllen; aber es entsteht eben auch etwas neues daraus, das sich über das rein Destruktive hinaus zum Amorphen wandelt und schließlich zu neuer Gestalt findet. Bei „Die Schönheit hat keine Ahnung“ spürt man das nicht nur an der atmosphärischen Aufladung des gesamten Galerieraumes, Ivlevs ästhetisch konzeptuelles Kalkül zeigt sich auch an der konsequenten Verfolgung des Themas der Metamorphose. Den Künstler interessieren die Übergänge zwischen Mensch und Tier, zwischen belebter und unbelebter Materie, zwischen Bild und Skulptur, Skulptur und Raum. Das Durchlässigmachen von Grenzen ist dabei wie immer zugleich aufregend und beängstigend.

Das morbide Pathos und die ins Selbstironische kippende Theatralität, die insbesondere der stummen Performance Ivlevs innewohnte, wurde bei der Eröffnung wiederum gebrochen durch den Spontanauftritt der Hamburger Indierockband Exits to freeways, die auf Einladung des Künstlers, einen Tag vor ihrem Münsterschen Konzert, einen Auftritt mit angezogener Handbremse improvisierten: Mit dem Schlagzeuger in den Hochsitz gequetscht und dem Rest der Band zwischen Bildern und Skulpturen stehend oder sitzend, gaben sie ihre Songs in quasi kammermusikalischer Manier zum besten. Was die surreale Seltsamkeit der Veranstaltung noch steigerte und sie in den Rang jener legendären Ausstellungseröffnungen erhob, von denen im Nachhinein alle bedauern, nicht dabeigewesen zu sein.

[…]

Dr. Stephan Trescher