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Fotos: Thorsten Arendt


Silber Samt Schwarz

Rede zur Eröffnung der Ausstellung Martina Essig – silver
in der dst.galerie Münster am 13. August 2010
von Dr. Stephan Trescher

Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Irreführung ist keine künstlerische Disziplin. Und auch keine kunsthistorische. Ich könnte Ihnen höchstens eine „irre Führung“ durch die Ausstellung versprechen, aber so viel Eigenlob mit Vorschußlorbeeren bringe ich dann doch nicht auf. Also, worum geht es? In erster Linie und unbedingt um die Bilder von Martina Essig. Aber z.B. auch um Erwartungen und wie man sie enttäuscht. Was immerhin an Irreführung grenzt. Die Ausstellung hier in der dst.galerie trägt den schönen Titel silver – auf den komme ich später noch zu sprechen – sonst würde sie, wie etliche Ausstellungen von Martina Essig vorher, sicher nur den Notnamen „Aquarelle“ tragen. Denn als solches bezeichnet die Künstlerin ihre Arbeiten, auch dann, wenn gelegentlich stark verdünnte Acrylfarbe oder, seltener noch, Blei- und Buntstifte zum Einsatz kommen. Da werden diejenigen unter Ihnen, die noch keine Martina-Essig-Ausstellung besucht haben, wohl doch eher irritiert sein. Denn was man sich landläufig unter Aquarellen vorstellt, selbst wenn man schulkindliche Versuche oder die ihre kreativen Potentiale auslotenden Damen der Gesellschaft auf den Kanarischen Inseln außer acht läßt, ist doch etwas ganz und gar anderes: Aquarelle haben bunt zu sein, sollten am besten landschaftliche oder florale Motive haben, jedenfalls bei aller diffusen Wolkigkeit einigermaßen gegenständlich sein, außerdem klein und handlich und das heißt zusammengenommen: hübsch, niedlich und dekorativ.

Nach alldem werden Sie hier vergeblich suchen. Denn Martina Essig nutzt diese schöne Form der wässrigen Malerei in wahrhaft einzigartiger Manier. Was zunächst ins Auge sticht, ist natürlich die enorme Größe der Bilder. Hier in der Ausstellung ist keines kleiner als 100 mal 70 Zentimeter und die großen Blätter messen ungefähr 2,30 Meter auf 1,50. Wobei die Monumentalität der Arbeiten ausbalanciert, fast aufgehoben wird durch ihre hervorgekehrte Materialität, durch das leichte, dünne Papier als Bildträger, das völlig frei und ungeschützt an der Wand angebracht ist. Neben der leisen und leichten Monumentalität fallen noch zwei Elemente an Essigs Arbeiten sofort auf: Der hohe Grad an Abstraktion, der gleichwohl oft genug die Ahnung aufkommen läßt, dass da mal etwas Gegenständliches gesehen wurde, bevor es diesen entrückten Niederschlag im Bild gefunden hat. Und das Zurückdrängen und schließliche Fernbleiben der Farbigkeit, die Dominanz der Nichtfarbe Schwarz. Aber: Black is black? Von wegen. Schwarz ist eben nicht gleich schwarz. In Essigs Bildern kann das Schwarz ein völlig lichtloses Samtschwarz sein, schwarz wie ein Flöz, schwarz wie die Nacht, die Farbe von nassem Schiefer besitzen, von einem Stück verbrannten Holzes, ein faseriges Grau werden oder ein schwammiges, zum grobporigen Basaltgrau tendieren oder zur Farbe angelaufenen Silbers. Ja, doch, wenn man seine Phantasie ein wenig bemüht: auch Silber.

Womit wir, Sie haben‘s erkannt, beim Ausstellungstitel angekommen wären. Der lautet aber silver, nicht „silber“. Und zwar nicht, weil Englisch irgendwie hipper klingt, sondern weil er sich auf Andy Warhol bezieht und seine New Yorker Wirkungsstätte, die eines Tages von der Factory zur Silver Factory mutierte, als sie annähernd vollständig mit Alufolie ausgekleidet und silbern angestrichen worden war.

Zwei Bilder in der Ausstellung tragen in Klammern diesen Titel, silver. Zwei ziemlich unterschiedliche. Ein großes hier und ein noch größeres nebenan. Und beide gehen auf die gleiche Vorlage zurück. Wobei das die völlig falsche Vokabel ist, denn sie stellt einen viel unmittelbareren Zusammenhang her zwischen dem bildlichen Auslöser und dem fertigen Aquarell, als es ihn tatsächlich gibt. Die Künstlerin selbst spricht von „Bildanlaßgebern“ – und das trifft es schon sehr viel genauer. Denn obwohl erstaun-licherweise ihre Bilder ganz überwiegend Bilder nach Bildern sind, also in der Tat ganz bestimmte, konkrete, oft gegenständliche Anlässe besitzen, bleibt von diesen Anlässen im Bildwerdungsprozess nicht viel übrig. Es sind bloße Kondensationskerne, um die herum sich die Imaginationskraft der Künstlerin anlagert.

Um noch einmal auf die beiden Silberlinge zurückzukommen: Auf dem Schwarzweißfoto aus Warhols Factory waren Wände mit einer hellgrauen Struktur zu sehen. Von Silber keine Spur. Aber man glaubt ja, was man eh schon weiß, auch zu sehen. Man hängt an Namen und Erzählungen, traut den Bildunterschriften mehr als den Bildern, die man tatsächlich sieht. Insofern ist silver eine höchst ironische Untertitelung. Denn Martina Essig hält sich an das, was sie sieht. Sie nimmt es ernst. Und sie nimmt es genau. Oh und sehen tut sie viel! Wahrscheinlich sogar ein paar mehr Bilder als wir übrigen Zeitgenossen. Sie sieht sich aus Neigung und Neugier vor allem Kunst und ihre Reproduktionen an, aber beileibe nicht nur; läuft mit weit offenen Augen durch die Welt. Und das Gesehene bleibt nicht einfach als Spur auf der Netzhaut, sondern als Spur im Gedächtnis. Von da werden dann eines Tages die Bilder wieder heraufgeholt. Bei diesem Prozess, dieser Tauchbergung aus den Tiefen der Erinnerung, geschehen vielfältige Verwandlungen: Wie bei einer Art Filtersystem wird dabei alles mögliche weggenommen, aussortiert und extrahiert; es geschieht eine Reduktion auf reine Linien oder Strukturen oder einen bestimmten räumlichen Eindruck. Das nennt man dann wohl Abstraktion.

Diesem beinahe alchemistischen Läuterungs- und Konzentrationsprozess dienen auch der Verzicht auf die Eleganz der Pinselführung und auf die alleinige Kontrolle über das Bildgeschehen. Denn die Künstlerin gibt auch dem Zufall eine Chance. Der sich bei der von ihr verwendeten dünnflüssigen Farbe fast von alleine einschleicht in Form von Verlaufsspuren oder Tropfen. Bequemlichkeit kann man Martina Essig aber keineswegs unterstellen, auch wenn sie sich vom großen Mr. Chance gelegentlich unter die Arme greifen läßt. Wenn es denn eines Beweises bedürfte, müßte man sich nur das Bild mit dem wiederholt auftauchenden Bildschirmtestmuster und seinen mordsmäßig arbeits-intensiven Strichschichtungen anschauen, den gezielten Ummalungen der Verlaufs-spuren und den in Gegenrichtung dazu verlaufenden dünnen Pinselstrichen, die die Künstlerin als optische Gegengewichte zur Feinjustierung setzt.

Und was mitunter anmutet wie eine flüchtige, beinahe ungelenke Pinselführung, ist wohl Essigs Mißtrauen der Schönheit gegenüber geschuldet. Wohlgemerkt: einer gefälligen, widerspruchsfreien Schönheit des Oberflächenreizes, die vom Wesentlichen nur ablenkt. Die Schönheit um die es ihr geht, ist die Schönheit in Gedanken. Jedenfalls wird ihr Schatz an inneren Bildern so lange sortiert, gesichtet, eingedampft und verdichtet, bis nur noch die Essenz übrigbleibt, ein Tropfen Schönheit in einem Meer von Schwärze – oder eben ein paar leuchtend grüne Blätter auf nachtschwarzem Grund. Die aber als solche, also als erkennbar vegetabiles Motiv, dann doch vielleicht zu schön im landläufigen Sinne sind, zumindest in den Augen der Künstlerin nur akzeptabel, wenn sie zusammengehängt werden mit einem ebenso schwarzen Pendant, aus dem eine kleine, weiße Form herausleuchtet, die nun überhaupt nicht mehr gegenständlich zu deuten ist – auch wenn man sich irgendetwas zwischen Krone, Gerippe und Stern dazu denken kann. Assoziationen, die sich einmal einstellen, sind bekanntlich schwer wieder zu verscheuchen. Und Martina Essig läßt es meist still lächelnd geschehen, wenn Leute wie ich blumige Titel für ihre in aller Regel unbenannten Bilder finden. So könnte ich das Dutzend Bilder dieser Ausstellung also auch ganz anders nennen als immer nur „o.T.“: Gedenkbild für eine Videothek, Polarmeer, Ährenkleid, Schulfron, Flöz, Gletscher, Milky Way, Regenschleier, Baum überm Nacht-Teich, Stern und Schnuppe, Glut, Hermelin für Konstruktivisten (oder Mein Küchenfußboden nach dem Erdbeben – da kann ich mich nie so recht entscheiden). Wie Jean-Christophe Ammann zu den Bildern Martina Essigs schreibt: „Die präzise Fokussierung des Bildgedankens ermöglicht gleichsam den assoziativen Radius. Die Vieldeutigkeit ist nicht eine Absicht, sondern eine Konsequenz.“ Legitim ist es allemal, die gesehenen Bilder einer Essig-Ausstellung mit den erinnerten, gekannten und gewußten des eigenen Bildgedächtnisses zu verknüpfen. Denn mit Gedächtnis und Erinnerung, mit der Verwandlung von gesehenen Bildern in gespeicherte, erinnerte und wiederhergestellte hat die Kunst Martina Essigs ganz viel zu tun.

Ob wir uns neuronale Netze und Hirnsynapsen wie einen nächtlichen Sternenhimmel vorstellen dürfen, vermag ich nicht zu sagen, aber dass Erinnerung und Gedächtnis lücken- und sprunghaft sind, das man vom Aufblitzen bestimmter Erinnerungen oder Bilder ebenso spricht wie von Gedankensplittern, zeigt, dass man in Martina Essigs Bildern auch eine Verbildlichung von mentalen Prozessen sehen kann.

Deswegen wollen wir die direkt sichtbare Welt aber nicht außer acht lassen und uns noch ein paar wesentliche Charakteristika der Kunst Martina Essigs vor Augen führen. Unerwähnt geblieben ist bislang beispielsweise die Raumhaltigkeit ihrer Bilder: Wie Raum innerhalb einer Farbfläche erzeugt wird durch Struktur. Oder durch Torsion geometrischer Flächen. Oder wie jäh der perspektivische Raum in ein schwarzes Blatt einbricht, wenn sich in einer Ecke ein Geviert von himmelblauer Farbe öffnet wie ein Kerkerfenster, das die zuvor formlose, ungreifbare Schwärze wieder räumlich definierbar macht.

Überhaupt sind Essigs Aquarelle auch eine Schule der Wahrnehmung: Das schwarzweiße „Küchenfußboden“- Bild ist nicht nur ein völlig verdrehtes Quadratraster, ein fast schon amorphes Schachbrett, sondern schwankt zwischen Scherenschnitt und Kippfigur. Und hinter dem Vorhangschleier des großen silver-Bildes: Schimmert da nun in den Punktierungen ein Blauton durch oder nicht? Oder: Wie wirken die Bilder mit dem weißen im Gegensatz zu denen mit einem schwarzen Rand und wie verhalten sich dazu die randlosen? Bei allem intellektuellen Futter, das uns da geboten wird: Martina Essigs Bilder bewahren ein Geheimnis. Man merkt, dass die Künstlerin sehr dezidiert etwas ganz Bestimmtes ins Bild bannt. Nur ist es so konzentriert, dass wir es oft nicht zu erkennen vermögen. Das geht über das übliche Balancieren zwischen Konkretion und Abstraktion weit hinaus. Und mündet in schiere Präsenz.

Was mich zu einem letzten Gedanken führt: Das Denken im Raumzusammenhang, das Martina Essig in ihren Ausstellungen so virtuos demonstriert. Bei der Hängung der Bilder werden nicht nur formale Korrespondenzen oder Blickachsen berücksichtigt. Sondern auch das Rhythmisieren von großen und kleinen Bildern, das Ausponderieren von dunklen Flächen auf weißen Wänden oder, wie beispielsweise im Südzimmer, das optische Ausbalancieren von drei singulären Großformaten mit der Wand mit den zwei Fenstern. Deshalb ist es so eminent wichtig, so schön und so erhellend, Ausstellungen von Martina Essig zu besuchen: Weil sie als Ganzes funktionieren und im Zusammen-hang nochmal eine ganz andere Wirkung entfalten als die einzelnen Werke für sich. Egal also, wie viele Bilder Sie jetzt kaufen werden, es lohnt sich in jedem Fall, das Ganze im Blick zu behalten, heute abend und noch möglichst oft.

Stephan Trescher, August 2010